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Das Märchen im Roman

Als es im Leuner Stadtteil Lahnbahnhof noch eine Poststelle gab, traf sie manchmal die Briefträgerin am Gartenzaun, erzählte mir neulich eine Ortskundige, die ich im Rahmen meiner Recherchearbeit interviewte. Die Postfrau sei schon im Rentenalter gewesen und hatte den größten Teil ihres Lebens hier an der Grenze von Westerwald und Taunus verbracht.
Immer hätte sie etwas zu erzählen gewusst, was manchmal schon viele Jahre zurücklag. Einmal seien sie auf den letzten Braunfelser Fürsten zu sprechen gekommen, und da habe sie ihr eine Geschichte erzählt, die ihr einmal von einer alten Frau anvertraut worden sei. Heute bereue sie es, meinte die Ortskundige, dass sie damals nur zugehört, der Briefträgerin keine Fragen zum Hintergrund gestellt habe.
An das Märchen selbst, denn um ein solches habe es sich offensichtlich gehandelt, konnte sie sich noch gut erinnern.
Eine Regionalhistorikerin hatte mir anvertraut, dass man sich hier im Lahntal immer noch Geschichten erzählt, die leider niemals aufgeschrieben worden sind.
„Also“, begann die Ortskundige, „dann erzähle ich Ihnen jetzt das Müllermärchen, wie es mir in Erinnerung geblieben ist – im Gedenken an die Frau Fischer, die hier Poststellenleiterin und Briefträgerin war, die mir noch ganz andere Geschichten erzählt hat.“

Es war einmal ein Müller, der hatte eine große Familie zu ernähren. Drei Kinder im Alter von zwölf bis siebzehn Jahren hatte ihm seine erste Frau geboren. Beim dritten war sie im Kindbett gestorben.
Der Müller heiratete wieder und hatte jetzt neben seiner Frau und den Kindern seine eigenen Eltern und die seiner beiden Frauen zu versorgen. Da musste schon einiges an Getreide gemahlen werden.
Für seine Familie hätte das wohl auch gereicht. Doch da waren noch der Fürst und die anderen adligen Damen und Herren, die sich von den Abgaben ihrer hörigen Bauern und Handwerker nicht nur ernährten, sondern davon auch die Gelage, die Teppiche, die schönen Möbel, den umfangreichen Wagenpark und die Unterhaltung des großen Schlosses bezahlten.
Selbst arbeiten, das konnten die adligen Herrschaften nicht. Es musste schließlich gejagt werden, da waren Feste vorzubereiten und zu feiern und was es sonst noch an unangenehmen Dingen zu erledigen gab. Also ließen sie ihre Untertanen kräftig fronen.
Auch den Pächter der Mühle traf es hart. Der Bach, dessen Wasser die Mühle antrieb, führte davon nicht immer dieselbe Menge. In regenarmen Zeiten konnte er nicht so viel Getreide mahlen wie in regenreichen. Der Fürst jedoch kannte kein Erbarmen, senkte die Abgabemenge auch dann nicht, wenn sich die Mühlsteine gar nicht mehr zu drehen vermochten.
Als dem Müller nichts mehr für sich und seine Familie blieb, ging er in den Wald, wo er Beeren und Pilze sammelte, heimlich Tierfallen aufstellte und manchmal auch mithilfe von Pfeil und Bogen jagte. Das war allerdings verboten, seit sich der Fürst den Wald, der früher allen gehört hatte, angeeignet hatte, um hier mit anderen Adligen der Jägerei zu frönen.
Eines Tages, der Müller war wieder mit Pfeil und Bogen im Wald unterwegs, wurde er von den Wildhütern des Fürsten erwischt, als er sich gerade ein erlegtes Reh auf die Schultern geladen hatte. Man brachte ihn aufs Schloss, da wusste er natürlich schon, was ihm drohte, nämlich der Kerker. Dort saß er einige Tage bei Wasser und Brot, bis er plötzlich Besuch bekam.
Ein Beamter des Fürsten wies ihn zunächst auf die möglichen Folgen seiner schändlichen Tat hin, drohte mit dem Schlimmsten. Der Müller war am Boden zerstört. Er flehte den Beamten an, den Herren um Gnade zu bitten.
Drei Tage später erschien der Beamte erneut, hatte eine gute Nachricht zu überbringen, wie er sagte. Zuerst aber stellte er dem Müller eine Frage: „Wärest du bereit, Müller, im Fürstentum für Recht und Ordnung einzutreten?“
Der Müller wusste mit der Frage nichts anzufangen, fragte nach.
„Seit einiger Zeit rottet sich hier allerlei Gesindel zusammen“, sagte der Beamte, „das unseren Herrn bedroht. Da suchen wir ehrliche Leute, die uns warnen, sollte das faule Pack die Absicht haben, zum Schloss zu ziehen, um unserem gnädigen Herren ein Leid zuzufügen.“
Der Müller hatte davon gehört, dass die Bauern und Handwerker der Umgebung nicht mehr bereit waren, die Abgaben und Frondienste widerspruchslos hinzunehmen.
Plötzlich erkannte der Müller, wie er sich seine Freiheit erkaufen konnte. Freudig antwortete er dem Beamten: „Ja, ich bin bereit, Herr, für Recht und Ordnung zu sorgen.“
„Da hast du eine kluge Entscheidung getroffen, Müller. Hör dich um und wende dich an mich, wenn dir etwas zu Ohren kommt. Du findest mich auf der Rentkammer. Und was deine Schulden betrifft, da wird sich eine Lösung finden.“
Ein guter Tag, freute sich der Müller, konnte es kaum erwarten, seiner Familie die freudige Botschaft zu überbringen.
„Er hat Gnade vor Recht walten lassen“, erklärte er die Entlassung aus dem Gefängnis. Von der Unterredung mit dem fürstlichen Beamten sagte er kein Wort.
Da war die Freude natürlich groß. Man richtete sofort den Tisch mit dem, was noch im Hause war, weil man wusste, wie es einem im fürstlichen Kerker ergeht.
Schließlich war es so weit, dass sich die Armen zusammentaten und mit ihren Werkzeugen bewaffnet zum Schloss zogen. Dem Fürsten wurde beim Anblick der Versammelten angst und bange. Er erkannte deren Entschlossenheit, ihre Forderungen notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Hinzu kam, dass der Adlige nicht sofort Soldaten gegen die Lumpen, wie er seine Untertanen jetzt nannte, einsetzen konnte, weil diese zurzeit woanders im Einsatz waren.
So musste der Fürst, wollte er seinen und seiner Günstlinge Kopf retten, erst einmal auf die Forderungen seiner Untertanen eingehen.
Zufrieden zogen die Bauern und Handwerker ab, feierten ihren Erfolg.
Der Müller hatte sich der bewaffneten Menge angeschlossen, wollte er bei seinen Leuten doch nicht als Feigling gelten. Er hielt sich aber im Hintergrund, beobachtete und merkte sich die Namen der Anführer.
Fast einen Monat sah es so aus, als würde sich für die Menschen einiges zum Besseren wenden.
Doch plötzlich verkündeten Boten des Fürsten überall, dass es sich der Herr anders überlegt hätte. Er nähme alle gemachten Zugeständnisse zurück.
Das wollten sich die Leute nicht gefallen lassen, erfuhr der Müller und meldete sich auf der Rentkammer zum Rapport. Natürlich hatte er sich zuvor vergewissert, dass ihn niemand beobachtete, und für sein Vorhaben die Dunkelheit abgewartet.
„Was gibt es, Müller?“, empfing ihn der Beamte, der ihm seinerzeit das Angebot gemacht hatte.
Der Müller berichtete über die Empörung der Bauern und Handwerker nach der Rücknahme der Zugeständnisse durch seine Durchlaucht, wie er sich untertänigst ausdrückte. Es entstehe Unruhe. Man würde erneut anrücken.
„Nenne Namen“, forderte ihn der Mann auf. Da wurde der Müller zum Verräter seiner eigenen Leute.
Dieses Mal war der Fürst gut vorbereitet, kannte er doch jetzt die Namen der Anführer, und das Militär war auf dem Weg.
Plötzlich überkamen den Müller Zweifel ob seines Verrats. Er hielt es zuhause nicht mehr aus, machte sich davon in den tiefen Wald. Auf einmal vernahm er ganz in seiner Nähe ein klägliches Jammern.
Zufällig befand sich der Müller in der Nähe einer Tierfalle, die er vor einiger Zeit dort aufgestellt hatte. Als er ankam, gewahrte er einen Keiler, der in der Falle festsaß.
Der Müller hielt Ausschau und fand auch sogleich einen kräftigen Knüppel, mit dem er den Schwarzkittel erschlagen konnte.
Den Knüppel zum Schlag erhoben, stand er vor dem Tier. In Gedanken schon sah er sich mit den Seinen vor dem Festmahl um den Tisch sitzen.
„Tu´s nicht“, sprach da auf einmal das Wildschwein, „du hast einen Wunsch frei, wenn du mir das Leben lässt.“
Der Müller hielt inne: „Wieso nur einen, sonst hat man doch immer drei Wünsche frei?“
„Bitte, nimm mit einem Wunsch vorlieb, mehr vermag ich dir nicht zu gewähren.“
Drei Wünsche, da hätte der Müller nicht lange zu überlegen brauchen. Ein neues großes Haus und einen Bach, der immer genug Wasser führt. Ja, und der dritte Wunsch?, überlegte er.
Auf einmal ward sich der Müller der ganzen Tragweite seines Verrats bewusst, viele von Seinesgleichen würden beim nächsten Mal sterben müssen, nur weil er seine eigene Haut gerettet hatte. Er ließ den Knüppel sinken, setzte sich vor seinen Gefangenen und weinte bitterlich.
„Ich weiß, was dir auf dem Herzen liegt“, sagte da der Keiler: „Wie wär´s mit fünfhundert gut ausgerüsteten Soldaten, die deinen Leuten hülfen, den raffgierigen Fürsten zu verjagen?“
Der Müller war einverstanden und ließ das Tier frei.
„Verlass dich auf mich“, rief der Keiler, und ward nicht mehr gesehen.
Bald war es so weit. Wieder waren es viele, die wütend zum Schloss marschierten. Dort fackelten sie nicht lange, setzten Häuser in Brand, in denen sie Lakaien des adligen Herren vermuteten.
Die Tore zum Schloss waren geschlossen und so verharrte die Menge auf dem Marktplatz, bereit anzugreifen, sollte sich ihr jemand in den Weg stellen.
Aber mit der List des Militärs hatten sie nicht gerechnet. Wie aus dem Boden gewachsen, standen plötzlich die bis an die Zähne bewaffneten Soldaten in den Zufahrtstraßen zum Marktplatz, kesselten die Aufständischen ein und rückten zum Angriff vor. Das Militär kannte kein Pardon. Mit äußerster Brutalität gingen die Soldaten vor.
Schon schien für die Aufständischen alles verloren, als plötzlich aus allen Himmelsrichtungen schwer bewaffnete Reiter heranstürmten. Die machten mit den Söldnern des Fürsten kurzen Prozess.
Der Müller, an ihrer Spitze reitend, weil er sich ja hier auskannte, erstürmte mit ihnen das Schloss. Sie ergriffen die gesamte Fürstenbrut und warfen sie in ihren eigenen Kerker.
Anschließend wurde gefeiert. Siebenmal warf man den Müller in die Höhe und fing ihn wieder auf.
Da trat der Schulze hervor. Der hatte sich den Kämpfern angeschlossen.
„Höre, Müller: Unten, am großen Bach, die jetzt verwaiste Mühle des Fürsten, sie gehört ab heute dir und deiner großen Familie.“
Da dankte der Müller still für sich dem Keiler, hatte er ihm doch alle seine Wünsche erfüllt.

( aus: Reiner Kotulla: Leander Parow in: Die Braunfelsrevolte, Aachen 2013)

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